Das schwarze Schloss – Zutritt verboten! Paul Cézannes Malorte in Aix-en-Provence

Vorbemerkung

Dieser Text wurde im Juli 1997 im Basler Magazin veröffentlicht. Damals feierte man den 150. Todestag von Paul Cézanne in Aix-en-Provence und wurde sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass die Stadt nicht ein einziges Bild des großen Malers vor dem Zugriff besser informierter Kunsthändler und Sammler bewahrt hatte. Als ich vor fast 30 Jahren in Aix-en-Provence mit Künstlern, Galeristen, Kuratoren und Historikern sprach, war es, als würde man streng gehüteten Geheimnissen und einer bis dahin versteckten Geschichte auf die Spur kommen – so beschämend war es offensichtlich für die Stadt, sich eingestehen zu müssen, dass nicht sie, sondern deutsche Emigranten dafür gesorgt hatten, die wesentlichen Spuren der Cézanneschen Malorte in und um Aix-en-Provence für die Nachwelt festzuhalten.

Wir schreiben das Jahr 2025 und erleben, wie Paul Cézanne in seiner Heimatstadt grandios gefeiert wird: Endlich ist das Familienanwesen Jas de Bouffan restauriert und der Öffentlichkeit zugänglich, das Atelierhaus renoviert und das Musée Granet mit einer Cézanne-Hommage präsent, wie man sie so noch nie in Aix-en-Provence gesehen hat. Wir sind gespannt und freuen uns auf „Cézanne 2025“.

Die Literatur- und Bildungsreise Auf den Spuren des Exils in Südfrankreich vom 9.–14.9.2025 widmet dem Kunstereignis einen ganztägigen Programmpunkt in Aix-en-Provence >

Kennen Sie Aix-en-Provence

…. diese südfranzösische Stadt mit ihrem riesigen Brunnen in der Mitte, ihren sündhaft teuren Boutiquen, ihrer schattigen Platanenallee, auf der im Sommer Halb-Japan lustwandelt, und ihren zahllosen goldglänzenden Pflastersteinen, deren Inschrift sich einem bei jedem Schritt ins Gedächtnis hämmert: Cézanne, Cézanne, Cézanne..

Cézanne-Gedenkplakette in Aix-en-Provence

Die Medaillons sind keine Antiquitäten, sondern Zeichen eines pünktlich zum 150. Geburtstag von Paul Cézanne erwachten Interesses der Stadt an ihrem – malgré elle – berühmt gewordenen Sohn.
Stolz wird alles hergezeigt, was heute noch vom Vater der modernen Malerei zeugen kann: sein Geburtshaus, die Schule, die väterliche Bank, die Kirche seiner Taufe, die Kirche seiner Heirat, die Kirche seiner letzten Gebete, das Haus, in dem er bis zu seinem Tod wohnte, und das Café, in dem er regelmässig verkehrte.

Sind sie bedient? Dann wieder rein in den Bus und ab nach Arles, Avignon oder Saint Tropez.
Sollte Ihnen später einfallen, dass Paul Cézanne Maler war und die Wände im Kunstmuseum von Aix-en-Provence wahrscheinlich mit „Saintes-Victoires“, „Äpfeln“ und „Nackten Badenden“ behängt sind und Sie das Eigentliche nun wohl verpasst haben, können wir Sie beruhigen: Aix hat Ihnen alles gezeigt, was es noch von Cézanne hat: Fassaden und Attrappen.

Der Berg vor der Stadt – auch ein gebranntes Kind (siehe unten) – schweigt zu dieser Schande.

Aix ist in kleines mittelalterliches Städtchen mit engen Strassen und hohen Häusern um seine Kathedrale gelagert. Die Neustadt durchqueren breite Platanenalleen mit plätschernden Brunnen; in ihren lichten Laubgewölben wird die Nähe der Riviera fühlbar. Ringsum steigen sanfte Hügel; von den hellen Wegen, die sich zwischen Steinmauern emporwinden, fällt der Blick von Zeit zu Zeit durch offene Tore in ein wunderbares Land. Die Seealpen umgürten in der Ferne die Stadt und ihre Gipfel tauchen in eine Atmosphäre von wahrhaft elysischem Glanz. Die Winde der Provence scheinen hier nichts Trübes zu dulden. Alle Töne strahlen in ungebrochenem Licht. Und es ist jene selige Klarheit und süsse Schwermut über das Land gegossen, die ein besonderes Zeichen der Bilder des Meisters von Aix geworden sind. Aber nicht nur in den Farben hat er die Seele des Landes begriffen; wohin man schaut, tauchen die aus seinen Werken bekannten Bergkurven auf. Die ganze Landschaft ist wie ein Panorama, aus seinen Bildern aufgebaut.

Diese Beschreibung von Aix-en-Provence und seinem Umland stammt nicht aus Baedeckers „Handbuch für Reisende aus dem Jahre 1900“, sondern von Karl Ernst Osthaus nach seinem Besuch bei Paul Cézanne am 13. April 1906.

Karl Ernst und Gertrud Osthaus, 190

Der Kunstsammler und -historiker Osthaus, Gründer des ersten Folkwang-Museums in Hagen (Westfalen), war einer der wenigen frühen Bewunderer Cézannes, die das Glück hatten, ihn noch kurz vor seinem Tod persönlich kennenzulernen.
Denn obwohl Cézanne alle seine Besucher, wenn sie einmal da waren, freundlich behandelt haben soll, achtete er schon darauf, dass es nicht zu viele wurden. Er pflegte sein in Pariser Kreisen verbreitetes Image als „verlotterter alter Bär“ und „halluzinierender Grobian“, der keine Zuschauer duldete:

Sie glauben, dass ich einen Trick habe, und wollen ihn mir schnappen. Aber ich habe allen die Tür gewiesen. Keiner, kein einziger wird mich drankriegen.

Foto von Gertrud Osthaus, 1906

Karl Ernst Osthaus, als Deutscher nicht auf dem Laufenden, fuhr eines schönen Frühlingstags mit Gattin von Marseille aus mit der Eisenbahn nach Aix und – siehe da! – sah sich von Cézanne auf das herzlichste empfangen, im Atelier herumgeführt und sich vom Meister über seine wesentlichen Standpunkte zur Malerei unterrichtet.
Der Kunstfreund lobte, kaufte sodann zwei Bilder von Cézanne und fuhr noch am selben Abend mit dem Zug nach Marseille zurück, um von dort nach Tunis in See zu stechen.

Am 14. April 1906

… war ganz Marseille auf den Beinen, denn es feierte mit grossem Pomp die Eröffnung der ersten Französischen Kolonialausstellung. In den darauffolgenden Monaten kamen tausende von Besuchern, darunter auch viele junge Maler Cézannescher Prägung: die Kubisten Alain Derain und Georges Braque, seine letzten Schüler und Freunde Maurice Denis und Emile Bernard.
Als die Ausstellung im November 1906 mit phänomenalem Erfolg schloss, war Paul Cézanne gerade in Aix-en-Provence gestorben. die Kolonialshow, war, wie manches andere Spektakuläre, spurlos an ihm vorübergegangen.

Die Hälfte seines Lebens

…. hatte sich fern vom Trubel der Grosstädte im Bannkreis einiger Kilometer um Aix-en-Provence herum abgespielt; in einer Landschaft paradiesischem Zuschnitts, die von einem Berg, la Sainte-Victoire, genannt, beherrscht wird:

Die Sainte-Victoire ist nicht die höchste Erhebung der Provence, aber, wie man sagt, die jäheste. Sie besteht nicht aus einem einzigen Gipfel, sondern aus einer langen Kette, deren Kamm in der fast gleichmässigen Höhe von tausend Metern über denm Meer annähernd eine Gerade beschreibt (…) Diese von Norden sanft ansteigende und nach Süden fast senkrecht in eine Hochebene abfallende Kette ist eine mächtige Kalkschollenauffaltung, und der Grat ist deren obere Längsachse. Zusätzlich dramatisch wirkt die westliche Ansicht des Dreispitzes, weil sie gleichsam einen Querschnitt des gesamten Massifs mit seinen verschiedenen Faltenschichten darstellt, so dass auch jemand, der nichts von diesem Berg weiss, unwillkührlich eine Ahnung von dessen Entstehung kriegt und ihn als etwas Besonderes sieht.

Zitat aus: Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Berlin 1982

Cézanne war von diesem Berg seit seiner Jugend besessen gewesen. Auf zahlreichen Ausflügen mit Schulfreund Emile Zola hatte er das Terrain zwischen dem Steinbruch Bibémus, dem von Zolas Vater gebauten Staudamm vor Vauvenargues und der Strasse nach Tholonet erkundet.
Nach seinen Pariser Studienjahren und der Zeit in L‘Estaque, wo er sich während des preussisch-franzöischen Kriegs 1870 versteckt hielt, kehrte er an die Orte seiner Jugend zurück und erklärte den Berg für die restlichen zwanzig Jahre seines Lebens zum „Hauptmotiv seiner Meditationen mit dem Pinsel in der Hand“. Er passte dem Wetter, dem wechselnden Licht und den Jahreszeiten seinen Tagesablauf und Arbeitsrhythmus an.

Cézanne erkundete Materialstützpunkte und Wetterhütten

… in der näheren Umgebung der Sainte-Victoire, von denen er, sobald ihn sein Kutscher Monsieur Emery vor Ort abgesetzt hatte, den Berg mühelos erreichen konnte. Nahe des Steinbruchs Bibémus und der Strasse nach Le Tholonet lag das Château noir, dessen Besitzer 1887 an Cézanne ein Zimmer im Ergeschoss der Bastide, die ohnehin fast das ganze Jahr über leer stand, vermietete.
Cézanne war begeistert und hegte wahrscheinlich von Anfang an die geheime Hoffnung, die Bastide eines Tages kaufen zu können, denn als ihm 1902 gekündigt wurde, bekam er einen solchen Wutanfall, dass er auf der Stelle ein Feuer machte und fast alle seiner im Schwarzen Schloss gemalten Bilder vor den Augen der Besitzer verbrannte.

Cabanon im Steinbruch Bibémus

Im nahegelegenen Steinbruch von Bibémus besaß Cézanne ab 1895 einen zweiten Stützpunkt, ein kleines Cabanon, in dem er notfalls auch übernachten konnte, wenn er zu lange gearbeitet hatte oder das Wetter umschlug und der Mistral zu blasen anfing.
Häufig lud Cézanne Freunde und Besucher in das nahegelegene Dorf Le Tholonet zum Mittagesssen oder zu Kutschfahrten ein, bei denen er ihnen seine herrlichen Ausblicke vorführte.
Der Maler und Kunstkritiker Émile Bernard (1868-1941), ein Freund der von Cézanne wenig geschätzten Kollegen van Gogh und Gauguin, war, im Februar 1904 aus Ägypten zurückgekommen,  in der Absicht von Marseille nach Aix-en-Provence gereist, „alles über ihn (Cézanne S.G.) zu erfahren (…), um ihn ganz zu durchdringen und den kommenden Generationen die von ihm geschaffene Methode zu überliefern.“
Mit einem Cézanne-Porträt von Camille Pissarro in der Hand, fragte er Passanten in Aix-en-Provence nach dem Weg zum Hause des Malers. Ohne Erfolg.

Niemand kannte diesen Mann

… weder als Maler noch als Bankierssohn. Der Pariser Kunsthändler Ambroise Vollard machte ab 1896 bei seinen Plünderungsfeldzügen durch die Speicher von Aix-en-Provence ähnliche Erfahrungen:
die Besitzer von Cézanne-Gemälden schämten sich ihrer. Manche warfen Vollard „Cézannes“, die er beim Entrümpeln übersehen hatte, aus dem Fenster hinterher, die anderen argwöhnten, dass er die Bilder dieses „armen Mannes“ nur haben wolle, damit man sich in Paris ein weiteres Mal über die Leute aus Aix lustig machen könne.
Cézanne hatte recht, als er prophezeite, dass er für die Generation nach ihm male.
Wie kann man es den Kleinstädtern also verübeln, dass sie, ebensowenig wie übrigens auch das grosse Publikum und die Mehrzahl der Kunstsachverständigen in Paris, die sich gegenüber der Provinz schon immer für kompetenter hielten, die Zukunft im Jahre 1906, als Cézanne starb, nicht voraussahen?

Die Aixer hatten ihren Maler jedenfalls bald vergessen und die Geschichte nahm ihren bekannten Lauf: Bild um Bild wanderte ins Ausland ab und verschwand in Privatsammlungen. Erste grosse Cézanne-Werkschauen in München, London und Berlin machten in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Künstler und Kunsttheoretikern aus Deutschland, Österreich, aus Italien und der Schweiz auf das „Phänomen Cézanne“ aufmerksam und bestimmten sie dazu, zu den ersten und auf lange Sicht einzigen Botschaftern und Verteidigern der Cézannschen Malerei in Frankreich zu werden.

Was wurde aus Cézannes Immobilien?

Familienbastide Jas de Bouffan

…. der Hütte am Steinbruch, dem Zimmer im Schwarzen Schloß, dem Atelier auf dem Chemin des Lauves? Was wurde aus dem herrschaftlichen Landsitz der Bankiersfamilie Cézanne im Osten von Aix-en-Provence, dem Jas de Bouffan ?
Die Bastide war zwar 1899 nach dem Tod der Eltern verkauft worden, aber Cézanne hatte in ihr immerhin vierzig Jahre gelebt und gearbeitet und als 20-Jähriger die Wände der Eingangshalle bemalt.
Wurden auf Initiative der Stadt oder des Staates Gedenktafeln angebracht, Museen eingerichtet, Ausstellungen organisiert? – Nichts von alledem.
Familie Tessier vermietete das Cézanne-Zimmer im Château noir an andere Maler weiter.
Das Atelier erbte Cézannes Sohn Paul, der es leerräumte und zusperrte.
Das Haus dämmerte 15 Jahre lang vor sich hin und war dabei zu verwittern, als sich 1921 der Heimatdichter Marcel Provence, seiner annahm und es dadurch vor dem Zusammenfallen rettete, indem er es kaufte und mit einigen Objekten von Cézanne eine Art Kultstätte daraus machte.

Den im Jas de Bouffan verbliebenen Gemälden und Wandmalereien von Cézanne war ein besonders trauriges Schicksal bestimmt: nach dem Verkauf des Hauses 1899 bot der neue Besitzer die frühen Bilder von Cézanne dem Musée du Luxembourg in Paris an. Man lehnte ab, da der Konservator die Bilder für „ungeschickt, ja geradezu kindlich“ hielt. Daraufhin gingen „Die vier Jahreszeiten“ an private Sammler und kamen erst auf Umwegen viele Jahre später in die staatliche Sammlung des „Musée du Petit Palais“ nach Paris zurück. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden weitere Teile der Wandmalereien abgenommen und quadrameterweise an private Sammler verscherbelt .

Die Wände des Jas de Bouffan

… sind heute unwiderbringlich leer, aber die Immobilie allein wäre schon goldwert, könnte die Stadt sie nur bezahlen.
Das Haus, von der Familie Dr. Corsy bewohnt, kostet jedoch inzwischen etwa neun Millionen Franken, die die Stadt nicht allein aufbringen kann. 1994 sicherte sie sich zunächst nur das Vorkausfrecht und wartet nun, dass ein Wunder geschieht, damit der Jas de Bouffan eines Tages nach dem Vorbild des Hauses von Monet in Giverny zu einer Pilgerstätte für Cézanne-Liebhaber werden kann.
Zuviel Geld kosten inzwischen auch die Bilder von Cézanne, von denen man in Aix heutzutage – wenn man könnte – einige aus der Ermitage in Sankt Petersburg oder der Sammlung Barnes in den U.S.A. zurückholen würde.
Als Ersatz kamen 1984 acht kleine Formate leihweise aus Paris ins städtische Musée Granet – ein bescheidener Trost für die Besuchermassen, die jährlich auf den Spuren von Cézanne nach Aix-en-Provence reisen.
Die in der Vergangenheit angehäuften Versäumnisse bei der Pflege des Cézanne-Erbes werden heute umso schmerzlicher bewußt, da selbst mit allem Reichtum der Welt nicht bezahlt werden könnte, was in der direkten Umgebung der Cézanne-Orte städtischer Urbanismus und Raubbau an der Natur an Verwüstungen angerichtet haben:
Der Jas de Bouffan sitzt wie ein goldener Käfer im dichten Spinnennetz von Autobahn und Schnellstrassen, das von Neubausiedlungen aus den sechziger und siebziger Jahren eingerahmt wird.
Der gleiche Anblick erschlägt den Besucher, wenn er aus dem Ateliersgarten am Chemin des Lauves auf die Strasse tritt: rundum nur renovierungsbedürftige Betonsiedlungen.

Auch die Landschaft um den Steinbruch von Bibémus oder um die Sainte Victoire herum ist nicht mehr die gleiche wie zu Cézannes Zeit.

Paul Cézanne, Steinbruch von Bibémus, 1898/1900

Während die kantigen Blöcke des stillgelegten Steinbruchs unter Gräsern, Büschen und Bäumen verschwanden, wurde der einstmals bewaldete und landwirtschaftlich genutzte Südabhang der Sainte Victoire im Sommer 1989 von einem Waldbrand dramatischen Ausmaßes kahl gefegt und auf lange Sicht entstellt.

Das Schicksal des Cézanne-Ateliers

Atelierhaus von Cézanne auf dem Chemin des Lauves

… stand nach dem Tod von Marcel Provence im Jahre 1951 erneut auf dem Spiel.
Da die Stadt sich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht für das Denkmal interessierte, wäre es heute sicher eine Ruine, hätten Andere nicht die notwendigen Maßnahmen zu seiner Rettung ergriffen.
In diesem Falle war es der deutsch-amerikanische Kunsthistoriker John Rewald (1912-1994), der sich seit den dreissiger Jahren in Aix-en-Provence aufgehalten und Cézannes Malorte photographisch recherchiert hatte. Er bildete in den USA mit Hilfe reicher Freunde, zu denen auch Erich Maria Remarque gehörte, das „Cézanne Mémorial Committee“, kaufte das Atelier 1954 und stellte es unter Obhut der Universität von Aix-en-Provence, die es der Öffentlichkeit zugänglich machte.
Obwohl das Atelier 1969 von der Stadt als Museum übernommen und unter Denkmalschutz gestellt worden war, fehlte es in den sechziger und siebziger Jahren nicht an Versuchen, das Haus am Rande einer Strasse, die man gern erweitern wollte, in die Stadtbauplanung als ein zum Abriss bestimmtes Gebäude einzubeziehen.
Hätten John Rewald und der „Kreis der Cézanne-Freunde“ in diesen Jahren das Erbe des Malers nicht kämpferisch genug gegenüber städtischer Ignoranz verteidigt, gäbe es heute wahrscheinlich kein Atelier und auch kein Cabanon Jourdan am Steinbruch mehr. Auf den Jas de Bouffan liefe womöglich nicht mehr die jahrhundertealte Kastanienallee, sondern eine Autoschneise zu.
Der einzige Ort, der erfolgreich vor Immobilienspekulanten und Straßenbauern gerettet und darüberhinaus seit Ende der zwanziger Jahre zu einem Cézanne-Zentrum ganz eigener Art wurde, ist das Château noir auf der Straße nach Tholonet.

Die aussergewöhnliche Geschichte des Château noir

…. begann im Jahre 1928 mit der Ankunft des deutschen Malers Leo Marschütz (1903-1976). Er hatte die Malerei von Paul Cézanne 1919 in München und in Berlin bei Paul Cassirer entdeckt und sich die Worte eines Kunstkritikers zu Herzen genommen:

Man muss Cézanne im Licht von Aix sehen; einmal in seinem Leben muss man diese Bilder dort sehen können, wo sie gemalt wurden.

Château noir auf der route Cézanne

Er sollte auf seiner ersten Reise in die Provence im Sommer 1928 nicht enttäuscht werden – schon am Eingang zum Château noir taten sich sämtliche Cézanne-Motive vor ihm auf. Marschütz entschied sich daraufhin, Deutschland zu verlassen und ab 1931 als „Cézannes Gewissen“ im Schwarzen Schloss weiterzuleben. Gäste und Kollegen ließen nicht auf sich warten.
Cézanne-Forscher aus Europa und den USA gaben sich bei Familie Marschütz bald die Klinke in die Hand: Lionello Venturi aus Italien, Fritz Novotny aus Wien, Adrien Chappuis aus Basel, der Fotograf Robert Ratclifte und… John Rewald. Der Sohn deutsch-russischer Juden lebte seit 1932 in Paris, wo er an der Sorbonne Kunstgeschichte studierte. Auf Einladung seines ultralinken Studienfreunds Paul-Albert Krantz, alias Ernst Erich Noth, der 1933 nach Frankreich emigriert war, fuhr Rewald im Frühjahr 1933 erstmalig nach Aix-en-Provence, wo er mit den Bewohnern des Château noir in Verbindung trat und sich schnell mit Leo Marschütz anfreundete. Dieser bot ihm an, mit ihm gemeinsam – wie einst Cézanne – „zum Motiv“ zu gehen:

Marschütz hatte selbst schon einige Malorte identifiziert, vor allem jene am Château und seiner nä sheren Umgebung. Er bat mich, sie zu mit meiner Leica, die ich gerade erstanden hatte, zu fotographieren. Ich mietete mich bald darauf im Château noir ein und wir begannen mit unserer systematischen Jagd auf alle Cézannschen Malorte in der Gegend – in Aix, l‘Estaque, in Gardanne. (…) Es kam vor, dass wir vor Sonnenaufgang aufstanden und ich, während Marschütz Wache hielt und mir Anordnungen gab, auf Bäume im Wald von Château noir kletterte, um einige Äste abzuhauen, die die Sicht auf die Malorte verstellten…

Rewald schrieb 1935/36 gemeinsam mit seinem Freund drei Aufsätze über Cézanne und widmete ihm seine 1936 an der Sorbonne verteidigte Doktorarbeit über Cézanne und Zola. Marschütz stellte in diesen Jahren wichtiger Cézanne-Recherchen vor Ort seine eigene Malerei zurück. Er gab, aus Ehrfurcht vor seinem Meister, die Farbe auf und malte nur noch mit Kohlestiften.
Picasso befiel zwanzig Jahre später, als er 1957 das Schloss in Vauvenargues auf der Nordseite der Sainte-Victoire kaufte und somit Nachbar des Château noir wurde, das gleiche Syndrom – er malte nicht ein einziges Bild von der Sainte Victoire.

Am 4. September 1939

…. standen Gendarmen vor dem Schwarzen Schloss und forderten seine, in der Mehrzahl deutschen, Bewohner auf, sich am 7. September im 15 Kilometer entfernten Internierungslager von Les Milles einzufinden, denn mit Ausbruch des 2. Weltkriegs galten alle zu diesem Zeitpunkt in Frankreich lebenden Deutschen und Österreicher als „feindliche Ausländer“.  Zwischen Nazis, die geschäftlich in Frankreich zu tun hatten und Künstlern und Intellektuellen, die aus Deutschland aus politischen oder ethnischen Gründen fliehen mussten, wurde nicht unterschieden.
Leo Marschütz und Ernst Erich Noth gehörten zu den ersten Internierten in der stillgelegten Ziegelei von Les Milles.
Sie trafen dort unter anderem auf Hans Bellmer, Ferdinand Springer, Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever und Max Ernst und wurden zeitweilig als Prestatäre der französischen Armee eingesetzt.
Leo Marschütz blieb über ein Jahr im Lager. Nach seiner Entlassung kehrte er in den Wald von Château noir zurück, wo er sich bis zum Ende des Kriegs vor der Gestapo versteckte und dank einiger selbstgezüchteter Hühner und Kaninchen überlebte.
Ernst Erich Noth wurde vorübergehend von Jean Ballard im Büro seiner berühmten literarischen Revue „Les Cahiers du Sud“ in Marseille versteckt und konnte schliesslich, wie auch John Rewald, 1941 in die USA fliehen.

In den Jahren nach 1945

… erweiterte sich der Freundeskreis um Leo Marschütz im Château noir, zu dem nun auch der Aixer Galerist Tony Spinazola, der Architekt Fernand Pouillon und der 1945 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte surrealistische Maler André Masson gehörten. 1962 schrieb John Rewald aus den USA einen denkwürdigen Brief an Spinozola, um ihn zu einr Marschütz-Ausstellung in Aix-en-Provence zu ermutigen:

Es braucht Mut, um in der Nähe von Aix an einem Ort zu wohnen, der durch Cézanne berühmt wurde, im Schatten der Sainte Victoire, ohne sich dem Meister zu ergeben, dessen grösster Bewunderer und profunder Kenner Marschütz ist. Diesen Mut, mein Freund, bringt er nun schon seit mehr als dreissig Jahren auf, denn er hat niemals versucht, sein Idol zu imitieren. Sein Cézanne-Kult hat ihm von Anfang an gelehrt, dass sich die Verehrung nicht in kleinen Bildchen, sondern darin ausdrückt, woran der Meister selbst erinnert hat: in der Entwicklung unserer Fähigkeiten im Kontakt mit der Natur.

Der Hühnerstall, der Marschütz im Krieg als Versteck gedient hatte, wurde in eine Lithographiewerkstatt umgewandelt, in der sich der Maler als Drucker für André Masson, Tal Coat, und den Dichter Pierre Jean Jouve einen Namen machte.
1956, zum 50. Todestag von Paul Cézanne, setzte Leo Marschütz die erste (!) Cézanne-Ausstellung in Aix-en-Provence durch. Sie wurde mit 66 Werken zu einer der bedeutendsten Hommagen an den von seiner Geburtsstadt ignorierten Meister.

Die Hütte im Steinbruch Bibémus

…. blieb dank eines amerikanischen Kunstfreunds erhalten und konnte, gemäss einer testamentarischen Verfügung seines Ende der neunziger Jahre verstorbenen Besitzers, in vorbildlich restauriertem Zustand von der Stadtverwaltung übernommen werden.
Das Château noir, heute noch immer von amerikanischen Malern, Dichtern und Lehrern bewohnt, wird von seinem Besitzer, einem französischen Original namens Pussycat, wenn es sein muss auch mit dem Stock gegen fremde Schaulustige verteidigt und auf diese Weise hoffentlich noch lange vor geld- und prestigegierigem Zugriff bewahrt.

Marschütz‘ Mäzen Fernand Pouillon baute ihm in den sechziger Jahren unweit des Schwarzen Schlosses gegenüber seiner provenzalischen „Villa Medici“ ein Atelierhaus. Erst in dieser neuen lichtdurchfluteten und von allem Einfluss freien Atmosphäre kehrte Leo Marschütz in den letzten zehn Jahren seines Lebens zur grossflächigen farbigen Malerei zurück. Er starb 1976.
Fünf Jahre vor seinem Tod hatte er gemeinsam mit amerikanischen Freunden und Mäzenen im neuen Atelier an der heute so genannten „Route de Cézanne“ eine Malschule gegründet, die an das „Institute for American Universities“ in Aix-en-Provence angegliedert wurde. Es gibt sie bis heute.
Das Atelier und der aus dem Château noir herbeigeschaffte Hühnerstall dienen amerikanischen Kunststudenten als Arbeitsräume, deren Geschichte ihre Lehrer, ehemalige Freunde und Schüler von Leo Marschütz, mit unterrichten.
John Rewald starb 1994 in den USA. Seine Schüler veröffentlichten im Frühjahr 1997 Rewalds unvollendet gebliebenes Lebenswerk: den Kritischen Gesamtkatalog der Cézanne-Werke.
Seine Asche kam postmortem nach Frankreich an den Platz zurück, der ihm gebührt: an die Seite von Paul Cézanne auf dem Friedhof von Aix-en-Provence.

© Sabine Günther, 1997