Studieren in Marseille – eine Umfrage

Katharina, du verbringst gerade dein erstes Jahr im deutsch-französischen Doppelmasterstudiengang Médiation culturelle de l’art in Marseille. Welche Vorstellung hattest du von Marseille, bevor du hierher kamst?

Tatsächlich waren meine Vorstellungen ziemlich klassisch und stereotypisch: Es musste mich in Marseille die Sonne erwarten, die Lavendelfelder der Provence, eine Studienzeit direkt am Meer, und vor allem sollte mich die älteste Stadt Frankreichs mit einer außergewöhnlichen Geschichte und Architektur überraschen. Ebenso klischeehaft waren meine Befürchtungen und negativen Vorstellungen, denn soviel ich aus den Medien wusste, kämpft Marseille seit Jahrzehnten gegen ansteigende Kriminalität, Korruption, Arbeitslosigkeit und ein daraus resultierendes schlechtes Image. Vor allem aber hörte ich immer wieder: Marseille lässt keine keine Zwischentöne zu – entweder man liebt diese Stadt, oder man hasst sie.

Wie war dein erster Eindruck von der Stadt?

Marseille hat mich am Anfang ziemlich überrollt. Ich empfand die Stadt als sehr laut und unübersichtlich. Der Marseiller Akzent war mir anfangs so unverständlich, dass der erste Einkauf, die ersten Busfahrten und das „Nach-dem-Weg-Fragen“ zu einer echten Herausforderung wurden.

Wie hat sich deine Wohnungssuche gestaltet?

Meine erste Anlaufstelle war das CROUS, das Zimmer in Studentenwohnheimen vermittelt. Da ich nie eine Antwort auf meine Anfrage bekam, suchte ich zusammen mit einer Kommilitonin im Internet nach einer Wohnung. (le bon coin, se loger, de particulier à particulier)
Wichtigste neue Erfahrung: Ohne einen Bürgen mit französischem Pass wird mit ausländischen Studenten kein Mietvertrag unterschrieben. Man reist zu den Wohnungsbesichtigungen und zum Abschluss eines Mietvertrags am besten selbst an und sucht sich eine sehr gut französisch sprechende Vertrauensperson vor Ort, die einem dabei hilft, die Anforderungen der Vermieter zu verstehen und zu erfüllen.
Sobald man seine Anzeige im Internet gepostet hat, wird man von Maklern und Vermietern direkt kontaktiert. Meiner Erfahrung nach waren das immer Angebote mit unfairen Preisleistungsverhältnissen oder Makler, die Provisionen forderten.
Wir wurden schließlich im ruhigen, grünen und meeresnahen 9. Arrondissement fündig: für mein 12qm Zimmer in einer 2er-WG habe ich 530 € (Strom, Wasser, Heizung, Wlan inklusive) monatlich bezahlt.

Was fiel dir während deiner Streifzüge durch die Stadt auf?

Wie in Frankreich üblich, gab es auch in Marseille oft Demonstrationen und Streiks. Bald wunderte ich mich nicht mehr über ausbleibende Busse, verstopfte Straßen, das dröhnende Hupen genervter Autofahrer, wobei – typisch französisch – jeder zu allem etwas zu sagen hatte.
Ich beobachtete gerne die Leute, die draußen vor einem Café saßen und sich auch bis tief in die Nacht bei einem Glas Wein und mit einer Decke über den Beinen ungestört unterhielten.
Fans vom Marseiller Fußballverein Olympique Marseille (l’OM) kreuzten meine Wege an beinahe jeder Ecke, sie trugen ihre heißgeliebten Trainingsanzüge auch unbedingt außerhalb des Stadions oder der Fußballkneipe.

Gab es Dinge, an die du dich nicht gewöhnen konntest?

Der kalte Mistralwind, der es auch an einem sonnigen Tag unmöglich macht, die Schönheit der Stadt richtig zu genießen. Obwohl manche auf seine ‘reinigende Wirkung’ schwören, die die Sorgen und Ängste der Vortage einfach mit sich davontragen soll.
Als Studentin in Cafés an berühmten Plätzen wie dem Vieux-Port zu essen, war für mich wegen der hohen Preise leider ein seltenes Erlebnis.
Neben den Mieten sind auch die Lebensunterhaltungskosten in Marseille im Vergleich zu mittleren deutschen Städten hoch, auch wenn sie noch kein Pariser Niveau erreicht haben.

Welche Orte – Stadtviertel, Straßen – hast du entdeckt?

Eher zufällig entdeckt habe ich den Bus N°83, der zwischen dem Rond Point du Prado im 8. Arrondissement und dem Vieux-Port pendelt. Der Bus fährt direkt an der Meeresküste, der „Corniche“, entlang.
Am Vieux-Port angekommen, gehe ich oft direkt ins Viertel Noailles, wo es einen großen und durchgehend geöffneten arabischen Markt gibt. Neben frischer Minze und orientalischen Köstlichkeiten findet man hier auch die beste italienische Pizza der Stadt: bei Pizza Charly kostet das Stück Margherita 1 Euro!
Mein Favorit sind die Calanques, die weißen Meeresfelsen mit ihren zahlreichen Buchten und kleinen Stränden, die sich zwischen Marseille und Cassis hinziehen.

Welche Cafés, Bars und Clubs hast du entdeckt?

In einer Gruppe von Studenten zogen wir zunächst durch irische Pubs und unauffällige Bars am Vieux-Port. Wir besuchten Trolleybus, einen Club, an dem nur freitags der Eintritt frei ist, und Barberousse, eine typische ERASMUS-Kneipe. Hinzu kamen der Club La Poste à Galène nahe der Place Castellane, der für seine Electro Musik bekannt ist, aber nur einmal monatlich eine Music Box veranstaltet, und die Bar in den Halles de la Major, mein Favorit zum Ausgehen: eine stilvolle Mischung aus Restaurant und Bar.
Durch mein Studium der Kulturvermittlung habe ich das Equitable Café am Cours Julien kennengelernt, in dem es neben einer Büchertauschbörse auch immer wieder spontane, abendliche Veranstaltungen gibt.

Welche besonderen Studienbedingungen hast du erlebt? Und wo liegen die brisantesten Unterschiede zwischen dem deutschen und dem französischen System?

Meine Erfahrungen beziehen sich auf die Fakultät St. Charles, die direkt am Bahnhof liegt. Die Seminare an der Universität gleichen dem alten deutschen Schulkonzept: Frontalunterricht. Bei bis zu vierstündigen Vorträgen des Dozenten im Seminar ist es unmöglich, konzentriert bei der Sache zu bleiben.
Das französische Bildungssystem, das von seinen StudentInnen verlangt, vorgetragenes Wissen immer nur zu reproduzieren, ist sehr gewöhnungsbedürftig.
Ich musste leider auch erfahren, dass es sinnlos war, dieses bürokratische und überholte System öffentlich zu kritisieren.
Der Kontakt mit Franzosen war eher schwierig und kam oft nur durch Dritte zustande. Sobald jedoch die anfängliche Skepsis überwunden war, kam es zu herzlichen Begegnungen.

Was hast du noch für wertvolle Tips für StudentInnen, die nach Marseille kommen?

Unbedingt empfehlenswert ist die Beantragung des Wohngelds bei der CAF. Die Bearbeitung des Antrags kann sich über mehrere Monate hinziehen. Ich habe bald alle Angelegenheiten nur noch persönlich vor Ort geklärt, da im Internet Anfragen unberücksichtigt blieben. Für die Auszahlung braucht man allerdings ein französisches Konto, das ich bei der LCL eingerichtet habe, da man hier auch eine kostenlose “assurance d’habitation” erhält, nach der viele Vermieter verlangen.
Zusätzlich gibt es günstige Jahres- oder Monatsabos der RTM für Bus, Metro und die Tram in Marseille, doch es muss sich immer auf eine sehr penible Bürokratie eingerichtet werden.
Mein Studentenleben außerhalb der Uni habe ich durch zahlreiche Städtetrips bereichert. Mit einer Carte Jeune (einmalig 50 €, bis 25 Jahre) bekommt man fast jede Strecke zur Hälfte des Normaltarifs.

War das Leben in Marseille leicht, angenehm, interessant oder eher nicht?

Ich denke, dass man sich vor allem als Ausländer hier ganz schnell einleben kann und vor allem auch schon nach kurzer Zeit wohlfühlt. Ich habe noch nie erlebt, dass mich eine Stadt so herzlich aufnahm und akzeptierte. Wenn du in Marseille lebst, durch die Straßen gehst und an den Stränden liegst, dann bist du Marseiller – egal, wo du herkamst und egal, wo du hinwillst.

Von den Studienbedingungen her betrachtet, war es sicherlich nicht leicht. Angenehm war es in den Augenblicken mit Freunden oder in der seltsamen Ruhe, die einen ganz plötzlich an einer Straßenecke ereilen konnte. Und dann gab es noch diesen Moment, von einem Ausflug zurück nach Marseille zu kommen und sich auf dem Nachhauseweg beim Anblick der Kirche Notre Dame de la Garde und dem Fußballstadion Stade Velodrome direkt heimisch zu fühlen.

Katharina Rinio, Mai 2016

 

Adressen:

La Poste à Galène, 103 Rue Ferrari, 13005 Marseille
Les Halles de la Major, 12 Quai de la Tourette, 13002 Marseille
Le Trolleybus, 24 Quai de Reve Neuve, 13007 Marseille
Barberousse, 7 Rue Glandevès, 13001 Marseille
L’Equitable Café, 54 Cours Julien, 13006 Marseille
Pizza Charly, 24 Rue Feuillants, 13001 Marseille

 

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